Rudi stand auf

Wie von einem unsichtbaren Dirigenten geführt, stand Rudi auf und ging, ohne ein Wort, ohne einen einzigen Blick zurück.

Einfach noch einmal von vorne anfangen und etwas Neues machen. Wer hat nicht schon einmal davon geträumt, alles hinter sich zu lassen. Ein neues Leben beginnen und nur nach vorne schauen. Dieses Buch erzählt von einem solchen Neuanfang. Es ist die Geschichte von Rudi Kleine. Vierzig Jahre Beamtentum. Vierzig Jahre umgeben von grauen Möbeln, grauem Porzellan und grauen Anzügen. Nach vier Jahrzehnten Grauen fasst Rudi Kleine einen Entschluss, der seinem angepassten Dasein Leben einhaucht. Rudi steht auf – und alles um ihn herum beginnt sich zu bewegen. Es ist eine Suche zu Rudis Selbst, die ihm nicht nur Wege zu alten Bekanntschaften und neuen Leidenschaften bahnt, sondern ihm vor allem für das die Augen öffnet, das sich als wesentlich erweist.

Leseprobe

„Freitag.
Punkt neun.
Er wurde hier hinbestellt.“
Die Zahl vierzig konnte er nicht verleugnen, aber er hätte nein sagen können.

Seit vier Jahrzehnten war er dabei und doch gehörte er nicht dazu, hatte nie recht dazugehört. Ein Einsiedler im Gedränge der Rechtschaffenen. Auch heute versuchte die kleine Runde der Angepassten, ihm das Gefühl zu schenken, einer von ihnen zu sein. Zu diesem absurden Schauspiel hätte er nein sagen müssen.

Nun saß Rudi hier und hielt dieses Blatt in seinen Händen. Für 40 Jahre treue Pflichterfüllung sprach ihm eine mit Landeswappen und amtlichem Siegel schmuckvoll verzierte Urkunde Dank und Anerkennung aus. Treue – gehören da nicht zwei dazu? Ein schmuckloses Blatt Papier statt Wertschätzung. In der kleinen, grauen Porzellanschale vor ihm lagen ein paar trockene Butterkekse und mit bunten Zuckerperlen dekorierte Plätzchen. Immerhin. Und Filterkaffee, wenn auch dünn und lauwarm. Rudi trank einen kleinen Schluck, stellte die Tasse zurück auf den Couchtisch und schob sie mit einer demonstrativ missbilligenden Geste von sich weg. Trotz der Menschen um ihn herum fühlte er Leere, eine Empfindung, die sich für ihn an diesem Ort zum Normalzustand entwickelt hatte.

Dieses Haus war übervoll mit Leere.
Eine vollkommene Leere.

„Ich bin beeindruckt von unserem neuen Teamgeist“, sagte Hans Michelhans.
„Ja, dieses neue Wir-Gefühl entwickelt eine unglaubliche Dynamik“, war die Antwort, die sich der Amtsleiter wünschte und die er von Noll erntete.
„Ich bin fest davon überzeugt, auch unsere Imagekampagne wird ein durchschlagender Erfolg. Sie ist so bunt. Sie ist so frisch.“

Auch für diese Einschätzung fand Hans Michelhans ungeteilte und loyale Zustimmung, auch von seinem Speichellecker Ansgar Sievert, der direkt neben Rudi saß. Genauer gesagt, ‚Dr.‘ Ansgar Sievert, denn auf seinen akademischen Grad legte Sievert wert, auch wenn der Erwerb seiner Doktorwürde in den Verwaltungswissenschaften sehr undurchsichtig
blieb, aber dies ist eine andere Geschichte. Rudi schaute nicht nach rechts, um nicht in das Gesicht von Sievert blicken zu müssen. Es war leichter zu ertragen. Sievert schien es nicht anzustrengen, unentwegt ‚ja‘, ‚ja natürlich‘, ‚ja, genau‘ oder ‚ja, da haben Sie vollkommen recht‘ zu sagen. Vielleicht, weil das Vokabular von Dr. ‚Jawohl‘, so nannte Rudi ihn, damit auch nahezu erschöpft war.

Was hatte Noll gesagt, eine unglaubliche Dynamik? Eine Dynamik der Leere, des Stillstands und des Rückschritts. Natürlich könnten wir die Gegenwart und auch unsere Zukunft neu gestalten. Wir sollten es sogar, sollten sofort damit beginnen. Aber Lippenbekenntnisse und schöne neue Bilderwelten veränderten nichts. Das Gespräch langweilte Rudi. Er wünschte sich, einfach nur in Ruhe gelassen zu werden, und sehnte das Ende herbei. Aber dieses entspannte Gespräch wollte nicht enden. Abwesend wanderte sein müder Blick durch den karg grau möblierten Raum und fiel auf das Bild an der gegenüberliegenden, weiß getünchten Wand. Es zeigte ein glanzloses Schwarz-Weiß-Porträt des Bundespräsidenten. Es war der alte, der bereits vor einigen Jahren aus seinem Amt gemobbt wurde. Hans Michelhans stand demonstrativ fest an seiner Seite und noch mehr an der Seite der präsidialen Ehegattin. Es verging keine Feierlichkeit, bei der er nach seinem zweiten Glas Bier nicht von dieser außergewöhnlich charmanten, vor allem aber, wie er gerne betonte, so gut aussehenden, ja begehrenswerten Präsidentengattin schwärmte. Sicherlich hing auch ein Bild von ihr an der Innenseite der Tür seines Büroschranks, dort, wo hinter dem leeren Ordner mit dem Aktenrücken ‚vertraulich‘ auch die Flasche Cognac für besondere Anlässe lagerte. Hans Michelhans hatte versucht, dem heutigen unvermeidbaren Punkt auf der Zeitschiene eines jeden Beamtenlebens eine wirkliche Bedeutung zu geben. Und wie immer verzog er sein rundes Gesicht zu einem breiten, selbstgefälligen Grinsen.